Was macht aus einem Dorf eine Heimat?

Was macht aus einem Dorf eine Heimat?

Rede zum 1. August 2019 in Otelfingen

Liebe Otelfingerinnen und Otelfinger

Liebe Gäste

Zum heutigen Nationalfeiertag möchte ich nicht über weltweite Herausforderungen wie den Klimawandel reden, nicht über die Beziehung der Schweiz zu Europa, nicht über die Schweiz und auch nicht über den Kanton Zürich. Ich möchte über uns reden, über Sie und Euch, über Dich und mich, über Otelfingen. Und da freut es mich besonders, dass heute so viele Otelfingerinnen und Otelfinger da sind. Wir haben nicht mit so vielen Leuten gerechnet.

Ich frage mich: Was macht es aus, ein Dorf zu sein – ein Dorf das nicht nur Wohnort sondern eine Heimat ist für seine Bewohnerinnen und Bewohner ist?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich etwas zurückschauen. Vor genau 150 Jahren wurde gerade die neue Kantonsverfassung angenommen, die auf Kantonsebene mit Referendum und Initiative neue Volksrechte schuf. Wesentliche Änderung betrafen auch die Dorfgemeinschaft direkt. In der Dorfgemeinschaft wurde bisher nämlich klar zwischen Bürgern und Niedergelassenen unterschieden. Neu gingen die Aufgaben der Bürger- und Zivilgemeinden an die Einwohnergemeinde über. Die Vorrechte der Bürger gegenüber anderen Einwohnern wurden eingeschränkt, die Niederlassungsgebühren für nicht-Bürger abgeschafft. Die Otelfinger Bürger fügten sich der neuen Verfassung aber zunächst nicht. Die Niedergelassenen durften nicht teilhaben am Bürgernutzen, d.h. dem Holz aus den gemeindeeignen Wäldern und dem Streu und Torf aus dem Ried. Die Niedergelassenen wehrten sich dagegen mit einem Rekurs beim Statthalter. Die Gemeinde verteidigte die Bürgerrechte mit dem Argument, dass die Niedergelassenen auch weniger zu Bürgerpflichten aufgefordert würden, wie dem Frondienst zugunsten der Gemeindewerke und der Steuerpflicht. Das mit der Steuerpflicht war damals offenbar auch noch anders geregelt. Der Statthalter unterstützte jedoch die Forderungen der Niedergelassenen und Otelfingen hat eher widerwillig einen Schritt zu einer moderneren Gesellschaftsordnung gemacht.

Trotz den rechtlichen Änderungen hat sich die Gesellschaft wohl noch nicht so schnell gewandelt und der gesellschaftliche Einfluss blieb mehrheitlich den alteingesessenen Bürgern vorbehalten. So findet man unter den Namen der Gemeindepräsidenten und Gemeindeschreiber bis vor wenigen Jahrzehnten ausschliesslich die alten Otelfinger Geschlechter (vornehmlich Schibli, Schlatter und Bopp).

Wenn ich den heutigen Gemeinderat anschaue, hat sich das Bild stark geändert. Es sind alles keine Otelfinger Geschlechter mehr. Es gibt nicht einmal mehr jemanden, der in Otelfingen aufgewachsen ist. Wir alle sind Zugezogene. Die Hälfte von uns kam sogar erst innerhalb der letzten 10 Jahren nach Otelfingen.

Diese Tatsache spiegelt sicher einerseites das starke Wachstum von Otelfingen wider – eine Verdreifachung der Bevölkerungszahl in den letzten 50 Jahren. Ich glaube, es zeigt aber auch, dass sich Neuzuzüger und Neuzuzügerinnen in Otelfingen wohl fühlen und bereit sind, sich zu engagieren – mindestens diejenigen, die ein politisches Amt haben, in der Feuerwehr oder bei den Samaritern dabei sind, oder in einem anderen der vielen Otelfinger Vereine mitmachen.

Die Schweiz ist eine Willensnation. Das hört man heute wahrscheinlich von vielen Rednerpulten. Sie vereint Bürgerinnen und Bürger, die einen unterschiedlichen sprachlichen, religiösen und kulturellen Hintergrund haben, durch deren Willen zu einer Nation und zieht so die Grenzen. In Otelfingen sind die geografischen Grenzen festgelegt. Aber ob wir ein Dorf sind – im Sinne einer Heimat – in der wir uns wohlfühlen und gerne aufhalten, ist in der heutigen Zeit nicht mehr eine Frage der Grenzen. Viele von uns überschreiten die Grenzen von Otelfingen täglich und gehen ihren Tätigkeiten ausserhalb nach – sei es für die Arbeit, zum Einkaufen, in der Freizeit. All diese Tätigkeiten wurden früher vor allem innerhalb der Grenzen ausgeführt, wodurch sich die Leute gut kannten. Ob wir in der heutigen Welt ein Dorf mit einer lebendigen Dorfkultur sind, ein Dorf, in dem Leute mit unterschiedlichem sprachlichem, religiösen und kulturellen Hintergrund sich kennen und einen Austausch pflegen, hängt vom Willen von uns allen ab. Was wir also in der heutigen Zeit brauchen, ist ein Willensdorf.

Wenn wir wollen, sind wir Otelfingen. Es ist das Wir-Gefühl, das es ausmacht, dass ein Dorf nicht nur ein Dehei, sondern auch eine Heimat ist.

Und so frage ich mich – und Sie:

Was braucht es, damit Leute sich in der Freizeit ehrenamtlich oder gegen eine kleine Entschädigung zum Wohle und die Sicherheit des Dorfes einsetzten? Aufgaben, die vor 150 Jahren die Bürger in Fronarbeit übernommen haben, wie der Werkdienst, sind heute professionalisiert. Feuerwehr und Samariterverein müssen konstant um Mitglieder werben, damit sie ihre wichtigen Aufgaben noch auf freiwilliger Basis erfüllen können. Dabei braucht es nur ganz wenige Prozente der Bevölkerung, die sich dafür engagieren.

Was braucht es, damit sich noch mehr Leute politisch engagieren? Obwohl wir manchmal auch Kampfwahlen haben, ist es ja nicht immer einfach, genügend Leute zu finden, die sich für ein politisches Amt zur Verfügung stellen. Dabei braucht es dafür nur etwa ein gutes Prozent der Bevölkerung.

Was braucht es, damit sich Menschen einem Verein anschliessen und etwas zum Dorfleben beitragen? Letztes Jahr hat sich der Männerchor aufgelöst, dieses Jahr ist der Verkehrs- und Verschönerungsverein an der Auflösung dran. Vor einigen Jahren kämpfte das Forum Otelfingen, unser Dorfverein, darum, die Vorstandsämter zu besetzten. Doch ihm ist es gelungen, dem Verein mit einer Erneuerung des Vorstandes wieder mehr Schwung zu geben. Auch die Stiftung Mühle und ihre Kulturkommission konnte neue engagierte Leute gewinnen und startet mit Ihnen in eine spannende neue und vielfältige Saison. Und mit dem FraueNetz ist sogar eine neue Gruppierung entstanden.

Es gibt Leute, die mir schreiben mit vielen, tollen Ideen, was es in Otelfingen noch geben könnte. Was braucht es, dass, sich dies Leute mit Gleichgesinnten zusammentun und sich dafür einsetzten, dass eine dieser Ideen oder Wünsche umgesetzt wird? Denn alle Aufgaben der Gemeinde zu übertragen, ist keine Lösung. Dafür fehlen uns finanzielle und personelle Ressourcen – ganz abgesehen davon, dass nicht alle Aufgaben der Gesellschaft an den Staat delegiert werden sollen.

Ich weiss nicht, was es alles braucht. Ein zentraler Punkt ist aber sicher der Wille von Leuten, einen Beitrag zu leisten, ein Stück Freizeit zu aufzuwenden – und da sage ich bewusst aufwenden und nicht opfern – und etwas auf die Beine zu stellen. Die Rolle der Gemeinde sehe ich darin, Kontakte zu vermitteln, Möglichkeiten zu schaffen und Unterstützung – vor allem im Bereich der Infrastruktur – zur Verfügung zu stellen. Der Wille des Gemeinderates dazu ist auf jeden Fall vorhanden.

Das moderne Otelfinger Dorf, wo ich leben möchte, ist also ein Willensdorf.

Und so schicke ich Sie mit dem Sprichwort «Wo ein Wille ist auch ein Weg.» nicht auf den Heimweg, sondern auf den Weg, gemeinsam unser Dorf zu gestalten. Und wenn Sie nach dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne gleich anschliessend noch eine Möglichkeit suchen, mit neuen Leuten ins Gespräch zu kommen, dann nehmen Sie doch einfach den Quizbogen hervor. Gemeinsam mit ihren Nachbaren finden Sie vielleicht den einen oder andere versteckten Hinweis in meiner Rede.

Tauschen Sie Tipps zu den Lösungen aus und vielleicht merken Sie im Gespräch, dass Ihr Nachbar ganz ähnliche Interesse hat wie Sie und es ergibt sich eine neue Idee für unser Dorf, die Sie gemeinsam umsetzten möchten.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen kommunikativen Abend und eine schöne gemeinsame Feier.

Vorschau auf die 1. Augustfeiern im Furttal mit Stimmungsbild der Gemeindepräsidien.

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